Vermutlich ist alles ganz anders

«Die Medien lügen nicht, sie verkürzen, unterschlagen, verdrehen und verfälschen.» Der bekannte TV-Journalist Ulrich Tilgner bringt es in «Lügen die Medien?», dem neuen Buch von Jens Wernicke auf den Punkt. Auch wenn die Medien selten bewusst lügen, so malen sie doch ein Bild, das mit der Wirklichkeit nicht mehr viel zu tun hat.

Die Medien und die Demokratie stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit: Die Demokratie funktioniert nur mit freien Medien. Und freie Medien gibt es nur in einer funktionierenden Demokratie mit freier Meinungsäusserung. Beim zunehmenden Vertrauensverlust der Massenmedien geht es deshalb sehr schnell ums Ganze, um die Legitimität der Macht und die Demokratie an sich. Deshalb ist die Auseinandersetzung mit der Medienkrise Bürgerpflicht. Dazu liefert das Buch «Lügen die Medien?» von Jens Wernicke bestes und breitgefächertes Anschauungsmaterial.

Wernicke, einer der meistgelesenen Autoren der bekannten Nachdenkseiten und seit diesem Frühjahr Geschäftsführer von «Rubikon», des von ihm gegründeten Webmagazins «für die kritische Masse» hat zwei Dutzend Journalisten und Vertreter der Zivilgesellschaft zu Medienfragen interviewt, darunter Ulrich Tilgner, Daniele Ganser oder Rainer Mausfeld.
Im erhellensten Beitrag des Buches, dem «Mythos der freien Presse» von 1997, leitet Noam Chomsky die Funktion der Massenmedien aus ihren Besitzverhältnissen ab: Als Instrument der Eliten hätten die Massenmedien «im Wesentlichen die Funktion, die Leute von Wichtigerem fernzuhalten. Sollen sich die Leute mit anderem beschäftigen. Hauptsache, sie stören uns nicht – wobei ‹wir› die Leute sind, die das Heft in der Hand halten.» Chomsky weiter: «Die führenden Leute sagen alle, ich zitiere sinngemäss: Die Masse der Bevölkerung besteht aus ‹ahnungslosen und lästigen Aussenseitern›. … Ihre Aufgabe ist es, zuzusehen und nicht am politischen Geschehen teilzunehmen. Sie dürfen ab und an zur Wahl gehen und ihre Stimme für einen von uns klugen Menschen abgeben. Aber dann sollen sie gefälligst nach Hause gehen und sich mit etwas anderem beschäftigen, Fussball gucken oder so.»

Nach Chomsky haben die Massenmedien also die Funktion, uns abzulenken und in der Illusion zu wiegen, wir würden als Mitglieder einer Demokratie das Geschehen mitbestimmen. Diese Illusion war schon in den demokratischen Anfängen beabsichtigt.  James Madison, Ko-Autor der amerikanischen Verfassung und der vierte Präsident der USA sagte in der verfassungsgebenden Versammlung, die Regierung solle «die Minderheit der Reichen gegen die Mehrheit schützen» (Quelle). Neben dem Wahlrecht und anderen Institutionen zum Schutz der vermögenden Eliten, braucht es dazu auch Instrumente zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung.
Die Inhalte der Massenmedien, so Noam Chomsky, entsprechen den Interessen der Verlage, der Werbekunden sowie der sie umgebenden Machtsysteme. Und obwohl diese These die rigorosesten Tests bestanden hätte, dürfe sie in den Medien nicht diskutiert werden: «Weshalb sollten die Strippenzieher sich auch selbst enttarnen?»

Im Feudalismus konnte der Adel seinen Willen ohne Rücksicht auf die Meinung der Untertanen zum Gesetz machen. In den Demokratien hingegen brauchen die Machthaber die Zustimmung der Mehrheit. Die Propaganda als gezieltes Mittel der Beeinflussung der öffentlichen Meinung wurde nach Darstellung von Chomsky im Ersten Weltkrieg zuerst in England und dann in den USA eingeführt. Besonders die amerikanische Bevölkerung lehnte einen Eintritt in den Krieg ab. Der demokratischen Partei gelang denn auch 1916 mit dem Slogan «he kept us out of war» die Wiederwahl von Präsident Woodrow Wilson. Dieser gründete nach der Wahl sofort das «Komitee für Öffentlichkeitsinformation», das innerhalb weniger Monate eine «regelrechte Kriegshysterie» erreichte, wie Chomsky schreibt. Führender Kopf der Kommission war Edward Bernays, der die Techniken der Kriegspropaganda auf die Wirtschaft übertrug und als Begründer der Public Relations gilt, einer Branche, die heute ein Mehrfaches der Leute beschäftigt, die im Journalismus arbeiten. In seinem Buch «Propaganda» von 1928 (2009 auf deutsch neu aufgelegt) schreibt Bernays, dass es möglich sei, «die öffentliche Meinung genauso herumzukommandieren, wie die Armee ihre Soldaten». Die neuen Techniken sollten von intelligenten Menschen genutzt werden, um dafür zu sorgen, dass der Pöbel nicht auf falsche Gedanken komme (zitiert nach Chomsky).
Diese Techniken wurden in der Folge nicht nur eingesetzt um unnötige Dinge zu verkaufen – zum Beispiel um das Rauchen unter Frauen populär zu machen –, sondern auch, um Kriege führen zu können. Der Vietnamkrieg, der erste und der zweite Irakkrieg gingen ganz direkt auf Kriegslügen zurück, die von den Massenmedien verbreitet und von ihnen auch nicht korrigiert wurden, als später die tatsächlichen Hintergründe bekannt wurden. Vielleicht erinnern Sie sich noch an die Brutkastengeschichte in Kuweit, mit der Bush der Ältere die Kriegsermächtigung vom Kongress bekam? Ein Fake der Agentur Hill&Knowlton.

Seit rund hundert Jahren erreicht diese «Bewusstseinsindustrie», wie Hans Magnus Enzensberger das Konglomerat von Medien und Public Relations bezeichnet, weitgehend ungehindert ihre Ziele. Ihre Akteure, Absichten und Strategien sind einigermassen gut dokumentiert und an sich nichts Neues. Dass nun plötzlich und weltweit über eine Medienkrise diskutiert wird, die im Grunde schon hundert Jahre alt ist, hat einen einfachen Grund: Mit dem Internet stehen Alternativen zu den Massenmedien zur Verfügung, die tatsächlich die Massen erreichen. Die Ablenkung und der Konsens der Unwissenheit, mit dem die Massenmedien den Status quo zugunsten der Eliten erhalten, ist erstmals in der Geschichte ernsthaft und grossflächig gefährdet.
Die Anti-Fake-News-Kampagne, die zum Teil von sehr potenten Medienhäusern und Geheimdiensten getragen und unterstützt wird, ist nichts weiter als ein Versuch des Mainstreams, die Gegner der alternativen Medien schlecht zu machen. Tendenziöse, verdrehte und vor allem halbwahre Nachrichten gibt es in den Massenmedien genauso wie bei den Alternativen. Im Mainstream haben sie einfach grössere Reichweite und wirken durch mehrfache Wiederholung wahrer.
David Goessmann, Korrespondent für ARD und ZDF und jetzt Produzent des unabhängigen TV-Nachrichtenmagazins kontext.tv empfiehlt in Jens Wernickes Buch, «jede Zeitung mit tiefer Grundskepsis aufzuschlagen». Es gibt heute nicht mehr viele Gründe, Mainstream-Medien zu konsumieren, es sei denn, um herauszufinden, welche neuste Sau durchs globale Dorf getrieben wird. Es ist immer gut zu wissen, welchen Halbwahrheiten der Welt gerade verkauft werden.

Jens Wernicke: Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung. Mit Interviews mit Walter van Rossum, David Goeßmann, Ulrich Teusch, Volker Bräutigam, Daniele Ganser, Ulrich Tilgner, Stephan Hebel, Werner Rügemer, Eckard Spoo, Noam Chomsky, Uwe Krüger, Rainer Mausfeld, Jörg Becker u.a.. Westend verlag, 2017. 368 S. Klappenbroschr. Fr.  28.90/€ 18.–

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