Widerstand schafft Wirklichkeit

Wie man mit kollektiven Irrtümern umgeht

Widerstandskämpfer haben eine überragende Stellung in der Geschichte, von Jesus über Luther bis zu Gandhi. Mit beschränkten Mitteln ist es Einzelnen immer wieder gelungen, übermächtige, gewalttätige Herrscher in die Knie zu zwingen. Viel häufiger allerdings nicht. Die Ursachen der Misserfolge sind aber weniger bei ihnen zu suchen, sondern in ihrem Umfeld. Denn hier gelten die Gesetze der Massenpsychologie, und deren Gültigkeit wird von den Menschen gerne verneint. Wir wollen doch Individuen sein und nicht Masse! Das ist aber nur beschränkt richtig.

Wenn wir einer bestimmten Überzeugung sind, dann werden wir alle widersprechenden Informationen zunächst ablehnen, die Quellen infrage stellen oder uns eine neue Erklärung basteln, die den Widerspruch zwischen der Realität und unserem Glauben irgendwie überbrückt. Das ist die kognitive Dissonanz. Eines der eindrücklichsten Beispiele ist das Auto, Symbol der freien Mobilität. Dabei stehen wir dauernd im Stau und wären mit dem Rad gesünder und schneller unterwegs, insbesondere wenn man die Kosten des Automobils in Zeit umrechnet.

Dass wir mit solchen Widersprüchen leben können, ist ein Produkt der kognitiven Dissonanz, die der amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger in den 1950er Jahren untersuchte (When Prophecy Fails, 1956). Es ist eine Form des Selbstbetrugs, die von der Werbung systematisch verstärkt wird (Rauchen: «Freiheit und Abenteuer»). Werbung in Zeiten des Überflusses macht eigentlich nichts anderes, als kognitive Dissonanzen zu schaffen und zu verstärken, und das mit etlichen tausend Werbebotschaften pro Mensch und Tag. Wahnsinn, im wahrsten Sinn des Wortes.
Oder wie Alain de Botton in seiner «Religion für Atheisten» schreibt:

«Was auch immer wir uns selbst über unsere Meinungsfreiheit einreden, unsere Wertvorstellungen haben eine verdächtige Ähnlichkeit mit denen der Unternehmen, die sich die beste Werbezeit leisten können.»

Vor allem aber betrügen wir uns selbst, vermutlich aus Trägheit und aus (schwach begründeter) Angst vor der Wahrheit. Überzeugungen aufgrund von kognitiver Dissonanz werden deshalb hartnäckig verteidigt, erstaunlicherweise besonders von Gebildeten. Dabei ist das ganze neoliberale System bei Lichte besehen eine einzige dissonante Kakofonie, die mit einem Sperrfeuer von kognitiven Tricks verteidigt wird. Es scheint fast unmöglich, dagegen anzukämpfen. Aber das ist nur in unserer Vorstellung schwierig (deshalb tun wir es nicht), wie der Gestaltpsychologe Solomon Asch (1907 bis 1996) entdeckte.

Solomon Asch wurde mit seinem Konformitätsexperiment berühmt, in dem er zeigte, dass Gruppendruck einen Menschen dazu bewegen kann, eindeutige Falschaussagen als richtig zu bewerten. Versuchspersonen mussten in dem Experiment in der Gruppe die Länge von eindeutig unterschiedlichen Linien beurteilen.

Welche der Linien rechts entspricht der Länge der Linie links? Keine einfache Frage, wenn alle anderen Gruppenmitglieder eine falsche Antwort geben. (Bild: Wikipedia)

Wenn die übrigen Gruppenmitglieder heimlich instruiert wurden, eine falsche Einschätzung abzugeben, so schloss sich die Versuchsperson in drei Viertel der Fälle dem falschen Gruppenurteil an. Bingo!

Der Mensch passt also seine Wahrnehmung der Wirklichkeit der Wahrnehmung der Mehrheit an – ein weiterer Hinweis auf die überragende Bedeutung des Kollektivs. Die Übernahme fremder Wahrnehmung mag in einer von Naturkräften dominierten Welt überlebenswichtig sein – «in Sicherheit, der Löwe kommt!». Dieser Umstand dürfte auch die Basis für die Funktionsfähigkeit der Demokratie sein. Die kollektive Einschätzung einer Sache ist fast durchgehend zutreffender als die Meinung von Experten. Wenn es darum geht, die Zahl von Kugeln in einer Glasschale zu schätzen, ist eine genügend große Gruppe konstant zuverlässiger als Mathematiker und Physiker.
Die Übernahme der kollektiven Wahrnehmung ist allerdings nur in einer relativ natürlichen Welt von Vorteil, nicht aber in einer von absurden Konzepten gestalteten Welt, in der wir orientierungslos herumirren.

Solomon Asch hat aber auch noch etwas anderes herausgefunden: Eine einzige abweichende Meinung kann den Ausschlag geben. Wenn in seinem Experiment nur ein einziges Mitglied der Gruppe an der Wahrheit festhielt, waren die Versuchspersonen mehrheitlich geneigt, ihren eigenen Augen zu trauen.

Das Individuum hat also entscheidende Macht – wenn es zur Wahrheit steht. Aber dazu muss es sie zuerst erkennen.

Die zerstörerische Ideologie, die wir zerlegen wollen, wird von Experten, Politikern und anderen Lautsprechern aller Art mit ermüdender Penetranz in die Masse hinausgetragen. Sie tun dies mit Vorliebe – und wahrscheinlich auch geplant – in Umständen, die sie kontrollieren und bei Gelegenheiten, an denen Widerspruch nicht geäußert werden kann: von Podien herab, über die Massenmedien oder an ihren eigenen Veranstaltungen.

Um diesen Lautsprechern das Handwerk zu legen, müssen wir sie in kontradiktorische Diskussionen verwickeln, in denen die Hohlheit ihrer Argumente zum Ausdruck kommt. Solche Disputationen nach allen Regeln der Fairness werden auf Video aufgenommen, veröffentlicht und dem kollektiven Gedächtnis zur Verfügung gestellt.

Die Wirkung ist zweifach: Zum einen ist der Widerspruch öffentlich, zum andern wird sich der Lautsprecher hüten, offensichtlich widerlegte Positionen weiterhin zu vertreten. Zugegeben: Manche sind so dreist und so gut bezahlt, dass sie sich von ihrem eigenen Bullshit nicht beeindrucken lassen. Aber es ist eine der wirkungsvolleren Formen des Widerstands.

Unerlässlich ist es auch, an öffentlichen Veranstaltungen das Wort zu ergreifen und der kognitiven Dissonanz des Neoliberalismus Widerstand zu leisten: nüchtern, freundlich, aber scharf. Und dabei nicht vergessen: Eine einzige Meinung kann den ganzen Saal zum Nachdenken und zur Überprüfung der eigenen Wahrnehmung bringen.
Man darf dabei durchaus Gefühle zeigen. Sie sind die Energie, die Denken und Handeln verbindet. Dass Abwertung, Respektlosigkeit oder gar Hass tabu sind, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Man kann auf tausend Arten Widerstand gegen die herrschende Ideologie leisten, und man soll es auch. Aber man sollte es nicht alleine tun und man darf sich nicht erschöpfen damit. Die beste Strategie ist nutzlos, wenn den Soldaten die Kraft ausgeht. Wie wir sie bewahren, ist deshalb von entscheidender Bedeutung.

Dies in ein Ausschnitt aus dem Buch «Die Strategie der friedlichen Umwälzung – eine Antwort auf die Machtfrage». edition Zeitpunkt, 2019. 122 S. Fr. 12.-–/€ 11.–. Bestellung hier.

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2 Antworten auf Widerstand schafft Wirklichkeit

  1. Schacher Pia sagt:

    Ja ja ja und nochmals ja! Ich bin dankbar, dass es noch so klardenkende Köpfe gibt.
    Denn ich fühle mich etwas verloren in diesem Hin-und Hergezetere. Freundinnen nehmen Abstand, weil ich gefährlich bin, wenn ich die Regierung für ihre Überreaktion kritisiere. Zum Glück bin ich nicht häuslicher Gewalt ausgeliefert und muss auch keine Schulkinder zuhause aus-und unterhalten…aber gestern musste ich zusehen, wie ein Fuchs in waghalsiger Manier eine Umzäunung überkletterte und Hahn und Hühner zu Tode jagte. Bis er verscheucht werden konnte, hatten 4 Tiere ihr Leben gelassen. Kann also sein, dass auch Tiere aggressiver reagieren…

  2. Martin sagt:

    Es gibt nur ein kleines Dilemma: Der Widerstand gegen das Falsche bringt leider nicht automatisch „das Richtige“ oder Passende hervor und ruft wieder bei anderen Widerstand hervor …

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