Chancen sind Krisen

Zukunft gibt es erst, wenn wir sie meistern – mit einer Entscheidung

Bis zum Überdruss haben wir uns sagen lassen, das chinesische Schriftzeichen für Krise bedeute auch Chance. Umgekehrt ist ebenso richtig: eine Chance bedeutet dann eine Krise. Klingt schon etwas anregender und anspruchsvoller. Chancen eröffnen sich erst in Krisen und wenn wir diese meistern. Aber wie?

Es ist im Grunde so einfach, dass man gar keinen Text zu schreiben bräuchte: Eine Krise ist sinnvoll, sobald man ihr einen Sinn gibt. Eine reine Entscheidungsfrage. Es ist allein uns überlassen, einer Krise einen Sinn zu geben oder nicht. Das leitet sich schon aus der griechischen Herkunft des Wortes ab, die uns näher sein dürfte als das chinesische Schriftzeichen. Das griechische krísis bedeutet so viel Entscheidung, Urteil zu krínein – trennen (unter)scheiden.

Was passiert, wenn wir einer Krise einen Sinn geben? Wir nehmen sie nicht mehr als etwas Belastendes wahr, sondern als Aufgabe, etwas zu ändern, gelegentlich die Umgebung, meistens sich selber. Sobald wir einer Krise einen Sinn geben, verwandelt sie sich in einen Übergang zu etwas Neuem. So viel zum Sinn von Krisen. Aber wer weiterdenkt, kommt zu erstaunlichen Ergebnissen.

Wie tief Krisen mit Entscheidungen verbunden sind, lässt sich zum Beispiel auch daran erkennen, dass die meisten Krisen eigentlich aus hinausgeschobenen, verpassten Entscheidungen bestehen. Man spürt, dass etwas richtig wäre und tut es dann doch nicht oder fährt aus Angst oder Bequemlichkeit mit etwas Falschem fort. Das zieht sich dann oft so lange hin, bis die Ursache, die vielleicht zu Beginn noch zu ahnen oder zu spüren war, längst aus dem Blickfeld verschwunden ist. Bis dann ein Schaden eintritt, durch man klug werden darf.

Sehr deutlich ist das am Konflikt zu erkennen, dem Spezialfall der Krise. Wir streiten ja selten darüber, was einen Streit bewirkt, sondern was ihn auslöst. Wenn es dann nicht gelingt, zum Kern der Sache vorzudringen, wird halt weiter gestritten – bis zur Trennung unter beiderseitigem Verlust. Das ist bei Paaren so, aber auch in Gruppen und Nationen. Denken Sie nur an all die Abspaltungen, von Sportvereinen über Länder bis hin zu Religionen. Das meiste ist eine Abspaltung von irgendetwas, ein babylonischer Wirrwarr.

Auf individueller Ebene ist das alles verständlich und plausibel: Man rutscht in eine Krise, gibt ihr einen Sinn, trifft eine Entscheidung und weiter geht’s.

Aber auf kollektiver Ebene – und da finden leider die grossen Krisen statt – ist es einiges komplizierter. Das Prinzip bleibt sich zwar gleich: Hinausgeschobene Entscheidungen verstärken die Probleme bis zur Unlösbarkeit.

Das Kollektiv denkt langsamer – wenn es nicht über echtes Führungspersonal verfügt – und schiebt deshalb länger hinaus, bis die Probleme so grossen Schaden angerichtet haben, dass er nicht mehr mit einer einfachen Entscheidung gutzumachen ist. Dann braucht es Schuldige, die bestraft werden können.

Nehmen wir ein politisch unverfängliches Grossproblem, den Autoverkehr. Ein Fortbewegungsmittel, das einmal der Freiheit diente, hat heute grösste Zwänge zur Folge: Strassen, Stau und Stress, Kosten, Lärm und Tod. Die ganze Zivilisation ist autogerecht gestaltet, ein Rückbau anspruchsvoll bis nahezu unmöglich. Zum Glück haben wir heute grössere Krisen, damit wir nicht wahrnehmen müssen, wieviel Schöpfung wir schon dem Automobil geopfert haben.

Kollektive Krisen haben also den Nachteil, dass sie eigentlich immer erst auftreten, wenn sie nicht mehr lösbar sind. In leichteren Fällen reicht ein Wechsel des Führungspersonals, das entscheidet und das Unvermeidliche tut. Aber viele Krisen sind schwerer.

Nehmen wir die Krise: den aktuellen Krieg. Dass er nicht aufhören kann, obwohl sich dies vermutlich 99 Prozent der Menschheitsfamilie sehnlichst wünschen, erkennen wir daran, dass die, die ihn führen, Verhandlungen kategorisch ausschliessen. Wir werden also noch eine Weile mit ihm leben und möglicherweise höchst gefährliche Eskalationsstufen in Kauf nehmen müssen.

Die Frage ist: wie lange? Oder direkter gefragt: Ab welchem Punkt werden wir persönlich aktiv? Wann werden wir uns konkret für den Frieden einsetzen? Ich meine nicht Klicks und Likes am richtigen Ort. Ich meine die Art von Kraft, die sich normalerweise erst nach einer echten Entscheidung entfaltet.

Es liegt mir fern, Ihnen, die Sie diesen Text vielleicht zufällig lesen, ein schlechtes Gewissen einzureden oder eine bestimmte Entscheidung zu empfehlen. Es geht vielmehr um einen nüchternen Blick auf die Logik einer Krisenentwicklung und die Frage: Wann fällt die Entscheidung, Ihre Entscheidung?

Eines ist klar: Je früher sie fällt, desto besser. Denn je länger sie hinausgeschoben wird, desto grösser der Schaden. Irgendeinmal ist der Schaden dann so gross, dass man gezwungenermassen klug wird, vorausgesetzt man ist noch am Leben. – Sonst machen Sie es wie die Pseudo-Esoteriker und verschieben es aufs nächste Leben. Lieber spät als nie.

Zurück zur Frage, an welchem Punkt der Krise wir persönlich aktiv werden, das heisst eine Entscheidung treffen! Weil die Frage so unangenehm ist, wird sie gerne hinausgeschoben.

Aber es gibt einen goldenen Ausweg, der sofort zu einer Entscheidung führt: der Krise einen Sinn geben!

Der Wiener Psychiater Viktor Frankl hat drei Konzentrationslager überlebt, weil er der schrecklichen Erfahrung einen Sinn gab: Er wollte der Nachwelt unbedingt über die Erfahrung der Konzentrationslager berichten.

Nach dem Krieg begründete er die Logotherapie – Heilung durch Sinn. In den 1950er Jahren war sie mainstream, heute sollte sie es wieder werden.

Welchen Sinn wir der ausufernden, alles erfassenden Multikrise geben, ist eine andere, tatsächlich schwierige Frage. Auf kollektiver Ebene werden Sinnfragen mit dem grössten gemeinsamen Nenner beantwortet, und das sind oft Gemeinplätze. «The pursuit of happiness», die Verfolgung des Glücks, steht zum Beispiel in der amerikanischen Verfassung. Logisch: Glück macht glücklich. Im Christentum geht es um die Sicherung des ewigen Lebens. An so etwas mögen viele schon gar nicht mehr glauben, schon gar nicht öffentlich und jetzt in dieser Zeit akuter Bedrohung.

Wenn wir auf die Welt als Ganzes schauen, dann erscheint der Gelderwerb als der einzige, von allen wahrgenommene universelle Sinn. Alle wollen mehr, zumindest fast alle. Geblendet von der enormen Gestaltungskraft des Geldes und verführt von seinem Reichtumsversprechen – das nur Wenigen erfüllt wird –, übernehmen und verfolgen wir ohne Reflexion diesen Sinn.

Das hilft in einem Krieg nicht viel. Da beschränkt sich der Sinn auf das Überleben. Und in diesem Modus ist der Mensch leider nicht gerade zimperlich. Es muss also mehr geben, wenn wir uns aus diesem Morast befreien wollen. Die Krise einfach nur durchzustehen, ist nicht Sinn genug. Das wäre dasselbe, wie ein Problem auszuhalten, anstatt es zu lösen.

Anstatt die Sinnfrage auf der kollektiven Ebene zu beantworten, wo sie im Moment unlösbar erscheint, können wir wenigstens für uns selber eine Antwort finden. Es gibt viele Möglichkeiten in dieser Multikrise: unerwünschte Verhaltensweisen überwinden, mehr Zeit mit Wesentlichem verbringen, möglichst immer die Wahrheit sagen, Freundschaften pflegen, Widerstandsfähigkeit entwickeln, Fähigkeiten entfalten, Bescheidenheit lernen, sich mit friedensbewegten Menschen verbinden oder eine beliebige Mischung davon.

Sobald sich das Leben mit neuem Sinn erfüllt, begegnet man auf wundersame Weise auch anderen Menschen mit Sinn, und es entstehen Verbindungen und Partnerschaften über weltanschauliche, religiöse und beliebige Grenzen hinweg, getragen von der Erfahrung von Sinn. Der Sinn ist das grosse Ja, das diese dunkle Welt des Nein erhellt, aus unserem Innersten hinaus und bis in unser Innerstes hinein.

Ich glaube, nein, ich bin vielmehr überzeugt, dass dieses Licht des Sinns diese Welt tatsächlich heilen kann. Aber dass es auch geschieht, ist bloss eine Hoffnung. Sie wird wahr, wenn viele Menschen eine Entscheidung treffen.

Als Laienprediger könnte man auch direkter appellieren: Wenn Du eine Entscheidung triffst!

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Eine Antwort auf Chancen sind Krisen

  1. Paul Steinmann sagt:

    Die Idee der Satzumkehr ist natürlich gut durchdacht und die Gedanken wichtig. Sie bleiben aber auf der wichtigen, primären, individuellen Ebene.
    Ich gehe mal davon aus, dass die Leser auf dieser Seite bereits aufgewacht sind und sowohl in der Krise Chancen sehen, wie auch Chancen und Sinn in der aktuellen Krise.

    Wir haben begriffen, dass über mehr Geld, mehr Macht und Kontrolle angehäuft wird, bis irgend eine durch sehr viel Geld ins Amt gehievte Regierung Dir z.B. sagt, dass Du jetzt in irgendeinen Krieg ziehen sollst, den Du nicht verstehst und ablehnst. Die Kontrolle reicht also bis zum Befehl, ihre Propaganda zu glauben und für diese Regierung folgsam zu sterben.

    Um die Pyramide Geld – Macht – Kontrolle am wirksamsten zu demontieren, sollten wir beim Geld anfangen.
    Wir können zwar mit Edelmetallen, Bitcoin oder in Zeitgutschriften etc. bezahlen, um ein wenig besser zu überleben und die Nachbarschaft zu pflegen, aber das ändert das Schuldgeld-Sklavensystem noch nicht.

    Das System ändern wir erst, wenn genügend viele Individuen den Sinn in der Krise gefunden, die Chance erkannt haben und gewillt sind, gemeinsam zu handeln, ein Risiko einzugehen und ein faires, nicht-inflationäres Geldsystem wie z.B. die Humane Marktwirtschaft zu fordern.

    Gewaltfrei handeln, würde heissen: Die Opposition einen und einmal einen tägigen Warnstreik ausrufen, um zu schauen, wie gross die Opposition ist. Einfach zuhause bleiben und keine Steuern und Abgaben mehr bezahlen, ist sicherer, als zu demonstrieren und sich mit der Staatsgewalt anzulegen. Falls der Streik gross genug ist, den Streik bzw. die Aufkündigung der Kooperation in diesem System verlängern, bis die Regierenden merken, dass sie so nicht mehr weitermachen können. Und dann kooperieren wir erst dann wieder, wenn die Verantwortlichen von der Macht entfernt und z.B. die Humane Marktwirtschaft eingeführt ist. Zwischenzeitlich bezahlen wir nur noch was wir wollen und zwar mit vorhandenem Bargeld.
    Wir sollten langsam über den Sinn ins Tun kommen.

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